Cover
Titel
Urteilsbildung im Geschichtsunterricht.


Autor(en)
Winklhöfer, Christian
Reihe
Kleine Reihe Geschichte
Erschienen
Frankfurt am Main 2020: Wochenschau-Verlag
Anzahl Seiten
88 S.
Preis
€ 12,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Jörg van Norden, Fakultät für Geschichte, Philosophie und Theologie, Universität Bielefeld

Mit der Urteilsbildung thematisiert Christian Winklhöfer einen Aspekt, der in Kompetenzmodellen, Curricula und Vorgaben für Abiturprüfungen Eingang gefunden hat. Der Gegenstand ist sowohl pragmatisch als auch theoretisch von hoher geschichtsdidaktischer Relevanz. Urteilsbildung ist, wie Winklhöfer zu Recht einführend sagt, ein „geschichtsdidaktisches Kernanliegen“ (S. 4). Von der Einleitung und dem Fazit abgesehen gliedert sich das Buch in drei große Kapitel, in theoretische Grundlagen, unterrichtliche Praxis und Unterrichtsbeispiele. Die Darstellung wird durch mehrere Schaubilder ergänzt. Kurze Exkurse, Definitionen und Beispiele werden durch Rahmung hervorgehoben.

Das Theoriekapitel argumentiert aus psychologischer, geschichtstheoretischer und geschichtsdidaktischer Sicht, schaut also erfreulich über den Tellerrand unserer Disziplin hinaus. Die in der Psychologie entwickelte Begriffe „Urteilsobjekt“ (S. 7), das, was bewertet wird, und „Urteilsdimension“ (S. 7), den Wertmaßstab, nutzt Winklhöfer gewinnbringend, um die Urteilsbildung im Geschichtsunterricht zu modellieren. Er zeigt, dass sie sinnvoller Weise mit Informationsgewinnung und –verarbeitung verbunden wird und sich auf ein Problem fokussiert, das hier und jetzt gelöst werden muss. Urteilsbildung entspricht insofern problemlösendem Denken, als es um die Entscheidung zwischen verschiedenen Optionen geht. Bei Winklhöfer bleibt unerwähnt, dass die Nagelprobe für die einmal getroffene Entscheidung, sich angesichts eines Problems so oder so zu verhalten, in der Praxis beziehungsweise in der Zukunft liegt, denn dort zeigt sich, ob es gelöst worden sein wird. Dass Handlungslogik stets Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft umfasst, schlägt eine Brücke zu historischem Denken, das sich von anderen Denkformen durch seine Zeitlichkeit auszeichnet.1 Der Zusammenhang zwischen Handlungslogik und Jeismanns „Vergangenheitsdeutungen“, „Gegenwartserfahrungen“ und „Zukunftserwartungen“ (S. 8f.), die Winklhöfer in seinem Theorieteil erwähnt, liegt auf der Hand. Wenn der Autor in seinem Abschnitt zur Geschichtstheorie auf Rüsens Kontingenz- oder Zeitdifferenzerfahrung verweist (S. 8), wäre zu erörtern, ob diese Erfahrung zu den Problemen gezählt werden kann, die aus psychologischer Sicht Urteilsbildung notwendig macht. Sehr plausibel ist, dass Winklhöfer die mit der Urteilsbildung zu verbindende Recherche, Prüfung und Verarbeitung von Informationen auf die historisch-kritische Methode, das Triftigkeitsmodell Rüsens und Jeismanns Trias von Werturteil, Sachurteil und Analyse bezieht. Diese Trias führt der Abschnitt zur Geschichtsdidaktik aus, allerdings wird zunächst die Reihenfolge umgekehrt. Mit der Analyse zu beginnen und dann über das Sachurteil zur Wertung zu kommen, ist zwar schulische Praxis, widerspricht aber nicht nur der Intention Jeismanns, sondern ist auch epistemologisch wenig überzeugend: „Weil die urteilende Person […] aus ihrer gegenwärtigen Situation heraus über ein Phänomen urteilt“, so Winklhöfer, steht vor jeder Analyse und jedem Sachurteil immer das Werturteil (S. 9). Mit Erkenntnisinteresse ist diese Standortgebundenheit gemeint und nicht der Wunsch nach Erkenntnis. Jeismann will im Unterricht von „feuergefährlichen“ Werturteilen, also solchen Geschichtsbildern ausgehen, die die Demokratie der Bundesrepublik in Frage stellen, und sie mithilfe der Analyse und des Sachurteils anhand der Überlieferung, auf die diese Urteile sich stützen wollen, in einem rationalen Diskurs des Irrtums überführen.2 Jeismann tut dies vor dem Hintergrund seiner eigenen Erfahrungen im Nationalsozialismus. Hier zeigt sich, wie wichtig es ist, geschichtstheoretische und –didaktische Konzepte zu historisieren beziehungsweise disziplingeschichtlich zu reflektieren. Winklhöfer macht deutlich, dass Analyse, Sach- und Werturteil sich nur analytisch trennen lassen und „nicht unbedingt in der beschriebenen Reihenfolge durchlaufen werden“ (S. 18) müssen. Von Jeismann aus und epistemologisch gesehen, steht das Werturteil eindeutig an erster Stelle. Positiv zu bewerten ist auch, dass Winklhöfer die historische mit der politischen Urteilsbildung und mit dem Historical Reasoning vergleicht. Die Frage bleibt spannend, was das eigentlich Historische einer Urteilsbildung und damit das Alleinstellungsmerkmal unseres Fachs ausmacht. Denn geurteilt wird in vielen anderen Bereichen. Was unterscheidet Urteilen von Entscheiden, Beschließen, Befürworten und Verneinen? Der Begriff bezeichnete ursprünglich den „Wahrspruch, den der Richter erteilt“ (Duden. Herkunftswörterbuch 2007). Reicht dazu Triftigkeit aus?

In dem Kapitel zur „Praxis der Urteilsbildung im Geschichtsunterricht“ betont Winklhöfer die Wissenschafts- und Subjektorientierung des Urteilens (S. 20) und steckt seine Rahmenbedingungen ab. Dazu schlägt er einen weiten Bogen von der Bildungspolitik bis zu den Lernvoraussetzungen der Schüler:innen (S. 23–26). Anschließend kommt er zu den Urteilsobjekten und –dimensionen, also zu den Begriffen, die er eingangs in Anlehnung an psychologische Modelle erläutert hat. Die Dimensionen entfaltet er unter anderem anhand der oben genannten Jeismannschen Trias (S. 32). In dem betreffenden Abschnitt wird die Spannung zwischen der Bindung an demokratische Normen und individueller Urteilsfreiheit überzeugend herausgearbeitet. Zu den Urteilsobjekten: Es sind, so Winklhöfer, „vergangene Wirklichkeit“ beziehungsweise „Phänomen(e) der Vergangenheit“ (S. 26) aber auch solche der Gegenwart (S. 27). Erfreulich ist, dass damit das Hier und Jetzt im Geschichtsunterricht seinen Platz hat. Es ist in Winklhöfers Argumentation schlüssig angelegt, weil er an anderer Stelle die Standortgebundenheit des Urteils hervorhebt, die ja an die Gegenwart der Urteilenden gebunden ist. Aber gibt es „Phänomene der Vergangenheit“, wenn Vergangenheit das ist, was vergangen, also nicht mehr da ist? Von den res gestae ist uns lediglich Überlieferung (historia rerum gestarum) geblieben. Beides ist nicht identisch und die Überlieferung steht uns nur deshalb zur Verfügung, weil sie hier und jetzt da, also nicht vergangen ist. Es ist der Überlegung wert, ob sich Urteile im Geschichtsunterricht nicht immer auf Probleme der Gegenwart beziehen, dabei aber mit Überlieferung argumentieren, die ebenfalls gegenwärtig gelesen wird. Genauso ist es bei Jeismann angelegt. Die „feuergefährlichen“ Geschichtsbilder beziehungsweise Werturteile, die er mittels Analyse und Sachurteil entmachten will, sind ein Problem für freiheitlich demokratische Grundordnungen. Im Kontext des Ukrainekrieges und der damit verbundenen Geschichtspolitik der russischen Regierung ist Jeismanns Anliegen von beängstigend aktueller Relevanz.

Dass es in erster Linie um Phänomene der Gegenwart geht, wird in den Unterrichtsbeispielen, dem dritten Kapitel des Buches, deutlich. Besonders gut gelungen ist die „geschichtskulturelle Kontroverse“ um die Benennung eines ICEs mit dem Namen „Anne Frank“ (S. 66–75). Das Urteil ist notwendig, um zu entscheiden, ob die Deutsche Bundesbahn einen ihrer Züge so taufen soll oder nicht. Es ist handlungsorientiert. Handlungskompetenz setzt Urteilskompetenz voraus. Die Recherche in Überlieferung und Historiographie liefert dazu sowohl Pro- als auch Kontraargumente. Es ist, didaktisch gesehen, ein Glücksfall, dass die Antwort nicht eindeutig ausfällt auf die Frage, ob „der Vorschlag der Bahn in der Tat als missglückten Versuch einer Ehrung Anne Franks zu deuten“ ist (S. 74). Der Versuch ist missglückt, weil er nicht konsensfähig war. In der Sache ist indes zu überlegen, ob die DB mit der Reichsbahn, die Menschen in die Konzentrationslager transportiert hat, in einer Art und Weise identisch ist, die die vorgeschlagene Benennung ausschließt. Erzählt nicht, wer die Benennung verwirft, in verblüffender Art und Weise traditional? Das zweite Beispiel fragt, ob „die DDR ein Unrechtsstaat“ gewesen sei (S. 57–66). Hier bleibt der Gegenwartsbezug, das aktuelle Problem, unsichtbar und damit unklar, warum überhaupt geurteilt werden soll. Es ist aber eindeutig da. Entweder wird die Frage formuliert, um die Partei Die Linke zu isolieren, indem man von ihr gewissermaßen als Eintrittskarte in den demokratischen Diskurs verlangt, die DDR als Unrechtsstaat zu bezeichnen. Wenn Die Linke das nicht tut, reicht jede politische Kraft, die mit ihr zusammenarbeitet, Honecker die Hand. Ob dieses Argument richtig oder falsch ist, sei dahingestellt. Relevant ist, dass ein aktuelles Problem der Frage Relevanz verleiht. Oder es geht darum, den Rechtsstaat BRD vom Unrechtsstaat DDR abzuheben. Das dritte Beispiel dreht sich um die Frage, ob es im antiken Athen Gleichberechtigung von Mann und Frau gegeben hat. Sie wird einleitend zu Recht verneint (S. 47). Damit ist der Gegenstand für die Urteilsbildung im Geschichtsunterricht eher ungeeignet, denn die Schüler:innen haben kaum Möglichkeiten, Pro und Kontra plausibel zu vertreten. Wo das Urteil von vornherein feststeht, kann es sich nicht mehr bilden. Daran ändert auch nichts, dass Vasenmalereien aus dieser Zeit Frauen als Handwerkerinnen und Wasserträgerinnen zeigen (S. 49). Das altgriechische Wort für Handwerker:in ist Banause. Die attische Oligarchie verachtete diesen Personenkreis. Nicht gender, sondern class ist hier der springende Punkt. Welches aktuelle Problem in diesem Beispiel eine Rolle spielt, liegt nicht so nah, wie bei den beiden anderen.

Winklhöfer ist uneingeschränkt zuzustimmen, dass „Urteilsbildung […] ein geschichtsdidaktisches Kernanliegen […] des Fachs Geschichte“ ist, aber es ist nicht sein „Herzstück“ (S. 77). Geurteilt wird in allen Bereichen und wissenschaftlichen Domänen. Historisch wird es erst dort, wo mit Überlieferung argumentiert wird, um ein Urteil zu begründen, das im Hier und Jetzt zählt. Unsere Zunft ist keine Vergangenheits-, sondern eine Gegenwarts- und Zukunftswissenschaft. Unsere Urteilsbildung ist narrativer Art.

Anmerkungen:
1 Jörg van Norden, Geschichte ist Zeit. Historisches Denken zwischen Kairos und Chronos – theoretisch, pragmatisch, empirisch, Berlin 2014.
2 Karl-Ernst Jeismann, Didaktik der Geschichte. Die Wissenschaft von Zustand, Funktion und Veränderung geschichtlicher Vorstellungen im Selbstverständnis der Gegenwart, in: Wolfgang Jacobmeyer / Erich Kosthorst (Hrsg.), Karl-Ernst Jeismann. Geschichte als Horizont der Gegenwart, Paderborn 1985 (Sammlung Schöningh zur Geschichte und Gegenwart), S. 27–42.
[3] Jörn Rüsen, Geschichte und Öffentlichkeit, in: Geschichtsdidaktik 3 (1978), 2, S. 96–111.

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